Erwartungen enttäuschen oder Enttäuschungen erwarten

Warum eine Übung im Enttäuschen von Erwartungen im Mußeprojekt? Weil wir den dringenden Verdacht haben, dass Erwartungen unsere Muße sabotieren können. Zwei Beispiele aus eigener Erfahrung. Wenn ich mußiziere (d.h. in Muße musiziere, also um der Schönheit des Musizierens selbst willen für mich selbst musiziere, nicht (bewusst) übend und nicht (bewusst) für andere konzertierend), wird der Mußezustand, in dem ich mich befinde, augenblicklich beendet, sobald mich Gedanken beschleichen wie “das konnte ich doch schon mal besser, das sollte ich doch besser können” usf. Oder wenn ich mit meiner Freundin gemeinsam am Gender Wayang mußiziere, ist unser gemeinsamer Flow und damit eine ausbalancierte Verzahnung der beiden Stimmen sofort gestört, wenn ich in die Rolle des Lehrers schlüpfe und ihre “Fehler” korrigiere. In beiden Fällen stellt sich eine Erwartungshaltung zwischen mich bzw. uns und die Sache, die mich eben noch absorbiert hatte. Ich empfinde einen Widerspruch zwischen dem Sein, wie es ist, und dem Sein, wie ich es erwarte. Plötzlich bin ich von der Wirklichkeit in ihrem Sosein abgetrennt. Und ohne Kontakt zu der Wirklichkeit, mit der ich in Resonanz gehen will, ist mir der Weg in die Muße versperrt. Darum also diese Übung, die uns erstens dazu verhelfen soll, ein Bewusstsein für die Existenz von Erwartungen in unserem Leben zu entwickeln sowie den Prozess einzuleiten, einen konstruktiven Umgang damit zu finden und zweitens ein Bewusstsein für die Kraft und das Potenzial von Enttäuschungen entwickeln soll.

Übungsablauf:

1. Schritt (Bewusstmachung der Erwartungen):

Notiere auf einem Zettel oder in einem digitalen Dokument drei verschiedene Erwartungen, und zwar erstens eine Erwartung, die du an dich selbst hast, zweitens eine Erwartung, die jemand anderer an dich hat und drittens eine Erwartung, die du an jemand (oder etwas) anderen (oder anderes) hast. Achte dabei darauf (und nimm dir entsprechend lange Zeit), dass dich diese Erwartungen spürbar beunruhigen bzw. berühren. Dass der Kassierer an der Kasse von dir erwartet, die Rechnung zu bezahlen, dürfte dich kaum belasten und eignet sich daher nicht als Erwartung für diese Übung.

Anmerkung zur Intensität der Übung: je nachdem, wie ernst die Erwartung ist, die du jeweils wählst, wird diese Übung für dich mehr oder weniger intensiv und damit potenziell mehr oder weniger emotional aufwühlend – und dementsprechend auch mehr oder weniger ergiebig. Wenn wir es schaffen, einen starken Trigger (einen äußeren Auslöser für unsere innere Aufwühlung) zu uns zu nehmen und nicht mehr die Verantwortung dafür nach außen abgeben, können wir uns auch von einer großen Last befreien und eine große Freiheit über unser Gefühlsleben zurückerlangen.

2. Schritt (Enttäuschung der Erwartungen):

Schreibe nun auf denselben Zettel in direkter Rede unter die jeweilige Erwartung, wie du sie radikal enttäuschst bzw. im Falle der dritten Erwartung, wie du selbst (von der Person, in deren Rolle du dafür schlüpfst) radikal enttäuscht wirst. “Radikal” meint hier kompromisslos, ohne abmildernde Einschränkungen oder Schuldbeteuerungen (“Es tut mir wirklich Leid, aber…”), die die enttäuschte Person schonen, trösten oder sonst wie davor bewahren könnten, die verursachte Enttäuschung in ihrer ganzen Heftigkeit und Wahrheit zu erfahren. Gib ein 100%iges NEIN zu der gestellten Erwartung und ein 100% JA zu der Realität und damit dem Potenzial, das in der entstehenden Enttäuschung steckt. Du könntest zum Beispiel gegenüber einer etwaigen Erwartung deines Vaters an deine Studienlaufbahn schreiben: “Vater, ich werde mein Studium nicht abschließen, …”, dann eine Komplikation bzw. Verschärfung benennen: “… obwohl du es mir komplett bis ins sechste Semester finanziert hast, …”, dann deine völlig ehrliche Begründung geben: “… weil ich schon lange ganz deutlich merke, dass es nicht das ist, was ich eigentlich tun will und es mir nachhaltig schaden würde, wenn ich weiterhin gegen meine Bedürfnisse lebe”, und dann mit der Alternative abschließen, mit der du dich für dich selbst und gegen die fremde Erwartung entscheidest: “Ich weiß genau, was ich wirklich will. Ich will nicht studieren, sondern ich will …”.

3. Schritt (Vernichtung der Erwartungen):

Nun schau auf deinen Zettel, ließ noch einmal die Erwartungen und verbinde dich mit ihnen. Lass sie in all ihrer Gewalt und Äußerlichkeit in dir wirken. Fühle, wie sich dich beschränken, dir deine Lebendigkeit, deine Freiheit, deine Möglichkeiten, dein volles Potenzial nehmen. Und jetzt sprich laut die Formulierungen aus, mit denen du sie enttäuschst bzw. mit der du im dritten Fall selbst enttäuscht wirst. Ließ jeden Enttäuschungssatz laut und deutlich. Lass dir Zeit und lies wie jemand, der unter keinen Umständen missverstanden werden darf. Sei der Richter bei der Urteilsverkündung und verlese den Erwartungen das schwerstmögliche Strafmaß: die Todesstrafe. Beschließe die jeweilige Enttäuschungs-Verkündung mit dem Holzhammerschlag-Satz: “Ich weiß, ich habe dich enttäuscht.” Nun halte einige Augenblicke in der Spannung dieses Moments inne, richte deinen Blick gerade aus und versuche nicht mit der Wimper zu zucken. Du hast gerade einen riesengroßen Ballast aus deinem Leben in die Hölle geschickt. Du hast gerade das Machtspielchen der Fremdbestimmung beendet und ihr die Entscheidungsgewalt über dein Leben aus ihren schmierigen Klauen gerissen. Darum zucke nicht mit der Wimper, sei gnadenlos, mach kurzen Prozess, hab kein Mitleid. Und merke dir diesen Augenblick.

4. Schritt (Mitgefühl mit dem Menschen hinter den Erwartungen und Eintritt in die Realität):

Die Übung ist noch nicht zu Ende. Der Triumpf des Lebens fordert einen Preis: den großen Schmerz im Todeskampf der Erwartungen, die du getötet hast. Was stirbt, sind nur Erwartungen, sind nur Konzepte. Das Problem daran ist aber, dass sich Menschen, die Erwartungen haben, in der Regel mit diesen identifizieren. Sie verwechseln die Erfüllung ihrer Erwartungen mit den eigentlichen Bedingungen ihrer Glückseligkeit (welche ausnahmslos unabhängig vom Außen und jederzeit verfügbar sind). Deshalb werden sie womöglich den Schmerz, die Kränkung und Verletzung, die eigentlich zu den Erwartungen gehören, zu sich selbst nehmen und meinen, du hättest ihnen ein Leiden zugefügt, anstatt nur ihre Erwartungen zu enttäuschen. Ein solcher Mensch, der glaubt, wir hätten ihm geschadet, braucht unser Mitgefühl. – Nicht unser Mitleid! Nichts und niemand in dieser Welt braucht unser Mitleid im Sinne des tragisch-dramatischen Mitjammerns und dadurch aufblähenden Bestätigens einer völlig natürlichen und unbedrohlichen Sache: der Erfahrung von Schmerz. Doch unser Mitgefühl mit dem Schmerz eines Gegenübers, d.h. die anerkennende Wahrnehmung der schmerzvollen Realität des Gegenübers (oder unserer selbst) und damit die Ermöglichung der Erfahrung, auch im Schmerz nicht allein zu sein, dieses Mitgefühl brauchen wir alle. Darum verbinde dich nun mit deinem enttäuschten Gegenüber bzw. deinem enttäuschten Selbst und versuche nur mitzufühlen, was da ist. Tröste nicht, beschwichtige nicht, rationalisiere nicht – verändere es nicht! Sondern nimm es einfach nur wahr. Es ist die Realität dieses Augenblicks. Und mag es auch leidvoll sein, so ist es doch die Wahrheit. Und es wird sich verändern, wenn du es nur nicht festhältst, indem du es zu ändern versuchst. Sprich den Satz: “Das ist die Realität. Das ist meine/deine/unsere Realität”. Atme und lebe in der Realität. “Das bin ich. Das sind wir.”

5. Schritt (Begegnung in Wahrheit, in der Fülle der Möglichkeiten)

Hier liegt dein wahres Potenzial. Hier beginnt das Leben, das dir zusteht. Hier begegnen wir einander in Wahrheit. In Wahrheit statt Erwartungen. Voll Möglichkeiten statt Zwängen, Ängsten, Schuld-, Scham- oder Pflichtgefühlen. Öffne dich für diese Freiheit, Weite, Leichtigkeit. Öffne dich für diese Fülle. Es steht dir zu. Es ist dein Geburtsrecht. Niemand kann dir das streitig machen, wenn du ihn oder sie nicht lässt. Niemand kann dir das nehmen, wenn du lernst, Erwartungen zu enttäuschen. Enttäuschen heißt, mich bewusst für die Wirklichkeit zu entscheiden. Und in der Wirklichkeit begegnen wir uns selbst und anderen von Herz zu Herz. Dafür sind wir hier.

6. Schritt (Teile deine Erfahrung! Teile deinen Schatz!)

Wer möchte, kann in den Kommentaren oder unserem RocketChat-Kanal seine Erfahrungen mit dieser Übung teilen. Wenn wir einen Prozess teilen und uns in unserer Wahrheit zeigen, ermöglichen wir es anderen, mitzufühlen und dadurch mitzuwachsen. Unser Wachstum potenziert sich also dadurch, dass wir es teilen. Das ist ein großes Geschenk. – Eine Bedingung für das Teilen innerhalb dieser Übung ist, dass wir das Geteilte nicht diskutieren. Wertschätzung und Mitgefühl auszudrücken ist immer willkommen; Kritik und Infragestellung in diesem Fall aber nicht.

Vielen Dank! 🙂

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